Rogerius Sailer, Abt des Zisterzienserstiftes Stams, ließ 1744 auf der Stamser Alm einen kleinen Ansitz errichten, der ihm und seinen Mitbrüdern als Sommerrefugium diente. Wenig später gab er den Bau einer Kapelle in Auftrag, die mit Fresken von Joseph Jais, einem Altar von Stiftsbildhauer Johann Reindl und einem Altarbild von Josef Bernhard Stebele ausgestattet wurde. Mit der 1749 fertig gestellten Kapelle war ein reizvolles Gesamtkunstwerk im Sinne des Rokoko entstanden, das vor allem wegen der Darstellung der so genannten „Lactatio Bernardi“ („Milchgabe an den hl. Bernhard“) besonderes Augenmerk verdient.
Der Maler Joseph Jais (1716-1763) musste mit der „Milchgabe an den hl. Bernhard“ ein theologisches Programm umsetzen, das ihm von seinen geistlichen Auftraggebern vorgegeben wurde. Das Bildthema bezieht sich auf den hl. Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der maßgeblich zur Verbreitung des 1098 in Cîteaux in Frankreich gegründeten Zisterzienserordens (Reformorden der Benediktiner) beitrug und der einflussreichste geistige Leiter seiner Zeit war.
Marienhymnus
Den Stoff für so manche Legende liefern die mit ausdrucksstarken „Bildern“ ausgeschmückten Überlieferungen über das Leben und Wirken von Heiligen. Unter anderem wird über den hl. Bernhard von Clairvaux berichtet, dass er einmal vor einer Marienstatue niederkniete und das Gebet „Ave maris stella …“ (Meerstern, sei gegrüßet …) zu sprechen begann. Als er zum Satz „Monstra te esse matrem …“ (Zeige dich als Mutter …) gelangte, spritzte die Heilige Jungfrau einige Tropfen aus ihrer mütterlichen Brust auf die Stirn und in den Mund ihres frommen Verehrers. Bald darauf verbreitete sich die „Lactatio Bernardi“ als beliebtes Bildthema in ganz Europa, und es wurde bis weit in die Barockzeit hinein manchmal in so gewagter Weise dargestellt, dass später korrigierende Übermalungen erforderlich waren.
Inhaltlich mag die „Lactatio Bernardi“ ein wenig unkeusch anmuten, im theologischen Sinn wird sie aber mit dem salomonischen „Sedes sapientiae“ (Sitz der Weisheit) in Verbindung gebracht: Maria verkörpert dabei den Sitz der Weisheit und übermittelt ihre Gaben an den hl. Bernhard – nur setzte sich diese Art der Deutung kaum durch, weil Legenden und Bilder wie die „Lactatio Bernardi“ aufgrund ihres anschaulichen Realismus in der Bevölkerung über lange Zeiträume hinweg wach gehalten wurden.
Dies nicht zuletzt, weil die Gnade der hl. Jungfrau Maria überall enorm hohes Ansehen genoss. Ihr barmherziger Beistand hatte übrigens so große Bedeutung, dass das Thema der „Milchgabe Mariens an den hl. Bernhard“ in der Theologie und folglich in der christlichen Kunst noch lange kein Einzelfall blieb. Z.B. wurden auch der hl. Dominikus und die hl. Katharina von Siena von der hl. Jungfrau mit Milch gelabt. Den hl. Dominikus nährte Maria, als er nach tagelangem Hungern, zurückgezogen in einem Wald, fast am Ende war, und die hl. Katharina wurde, wie es heißt, besonders großzügig („ingenti munere“) mit dem köstlichen himmlischen Nektar beschenkt.
Die „Lactatio“ ist ein Zeichen für die Heilsbemühungen der Muttergottes. Diese beziehen sich aber nicht nur auf die Lebenden, sondern auch auf die Toten. So existiert die Vorstellung, dass sie auch den armen Seelen im Fegefeuer auf mütterliche Weise ihre Milch spendet.
Auf dem Deckenfresko in der Kapelle auf der Stamser Alm sitzt Maria auf einer Wolkenbank, hält das Jesuskind auf ihrem rechten Arm und ergreift mit ihrer linken Hand ihre Brust. Der Milchstrahl geht direkt auf den hl. Bernhard von Clairvaux über, der in den Ordenshabit gekleidet zu Füßen der Muttergottes kniet. Eine Schar von Putten begleitet die Szene.
Der Schöpfer der schwungvollen Komposition ist der Imster Rokokomaler Joseph Jais (1716-1763), der in seinem Stil vom Augsburger Rokoko stark beeinflusst war. Seine künstlerische Beziehung zu Süddeutschland verraten die von Stiegen und Muschelwerk umspielten Scheinarchitekturen und das duftige Kolorit seiner Malerei. Den Charme des Deckenfreskos auf der Stamser Alm trübt nur eine Stelle, nämlich die Brust der hl. Jungfrau: Bedauerlicherweise ist es auf die prüde Wesensart des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, dass damals der Auftrag gegeben wurde, den nackten Busen der Muttergottes mit einem Stück Kleid zu übermalen (… dabei heißt es in Tirol doch: „Auf der Alm da gibt’s koa Sünd …“).
Tipp:
Die Stamser Alm befindet sich auf einer Seehöhe von 1.873 Metern. Vom Zisterzienserstift führt ein 12 Kilometer langer, gut beschilderter Weg zur Alm. Gehzeit: circa 3 Stunden.