Im Archiv des Tiroler Kunstkatasters werden ca. 4.500 Fotonegative von Hugo Atzwanger – einem wichtigen Vertreter der volkskundlichen Fotografie – im Format 6×9 cm verwahrt. Diese Aufnahmen gehören zu einer Bestandserhebung bäuerlicher Architektur, die in den Jahren zwischen 1949 und 1958 vom Land Tirol (Amt für Landwirtschaft) durchgeführt worden ist.
Der Maler, Heimatforscher und Fotograf Hugo Atzwanger (1883-1960) wandte sich nach dem Akademiestudium in München und seiner Tätigkeit als bildender Künstler ab den 1920er-Jahren als Autodidakt der Fotografie zu. Nach seiner Mitarbeit an der Südtiroler Bauernhausaufnahme im Rahmen der Kulturkommission Bozen wurde Atzwanger nach dem Zweiten Weltkrieg als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt für Landwirtschaft des Landes Tirol in Innsbruck engagiert, um an der Grundlagenforschung für das Tiroler Bauernhaus mitzuarbeiten.
In diesem Zusammenhang dokumentierte er hauptsächlich Bauernhäuser im Wipptal und Oberinntal, aber auch in Osttirol und im Bezirk Imst. In seiner Fotografie ging es Atzwanger nicht nur um das richtige dokumentarische Erfassen des Objektes, sondern er entwickelte auch einen differenzierten Blick für bau- und wirtschaftsgeschichtliche Fragen.
Unter dem Titel „Grundlagenforschung für das Tiroler Bauernhaus“ sollte nach Südtiroler Vorbild auch in Nord- und Osttirol der historische Bestand an Bauernhäusern landesweit systematisch erfasst werden. Unter der Führung von Hans Weingartner, dem Leiter des Amtes für Landwirtschaft im Amt der Landesregierung, Innsbruck, startete im Jahr 1949 mit mehreren wissenschaftlichen Mitarbeitern das Projekt. Es hatte zum Ziel, durch Kenntnis der regional typischen Formen und Elemente bäuerlicher Architektur Tirols das Verständnis für eine traditionelle Baugesinnung zu wecken, zu fördern und zu pflegen. Als Ergebnis sollte nach dem Vorbild Oberösterreichs eine Baufibel entstehen, eine Art Musterkatalog für Bauernhausarchitektur in der Zeit des Wiederaufbaues der Nachkriegszeit. Der angestrebte praktische Nutzen der Grundlagenforschung und die Umsetzung als Baufibel konnten allerdings nicht umgesetzt und erreicht werden. 1958 wurde das Vorhaben unter anderem wegen mangelnder Finanzierbarkeit abgebrochen.
Geblieben ist jedoch eine geschlossene Bauernhausdokumentation, die seit 1994 im Tiroler Kunstkataster archiviert wird. Die Kartei umfasst insgesamt ungefähr 12.000 Fotografien, etwa 5.000 Hausaufnahmen und ca. 2.000 Angaben zu Hausbemalung und Fassadenschmuck. Diese einmalige historische Sammlung von detaillierten Baubeschreibungen und dazu gehörigen Fotografien ist vor allem für Bauforschung und Baudenkmalpflege als Quelle von großer Bedeutung für Tirol. Durch die systematische Erfassung der Bauernhöfe wird – vor dem Beginn einschneidender Veränderungen in Landwirtschaft, Verkehr und Tourismus – ein fundiertes, regional beinahe lückenloses Bild der ländlichen Baukultur dokumentarisch festgehalten.
Neben der wissenschaftlichen Bedeutung als Dokumentation eines historischen Baubestandes sind die Fotografien des Archivs vor allem auch authentische Quellen, die einen eindrucksvollen Einblick in die bäuerliche Alltagskultur Tirols geben. Von allen Mitarbeitern am Projekt gelingt es dabei sicher Hugo Atzwanger am besten, die Kulturlandschaft sensibel auf seinen Fotografien abzubilden. Neben seinen Detailaufnahmen beeindrucken gerade jene Bilder, die die ländlichen Bauten in ihrem naturräumlichen und landschaftlichen Umfeld festhalten. Hugo Atzwanger hat eine auf das Objekt bezogene, meist menschenleere fotografische Bestandsaufnahme bäuerlicher Kultur geschaffen.
Als volkskundlicher Hausforscher verwertet Atzwanger seine Erhebungen in diversen Aufsätzen, die er in der Zeitschrift „Der Schlern“ und in den „Schlern-Schriften“ veröffentlicht und mit seinen Fotografien bebildert. Dazu zählen Beiträge über die Entwicklung des Bauernhauses im Wipptal (1952) oder über „Das Haus im Oberen Gericht“ (1956). In diesen Beiträgen nimmt er immer wieder Bezug auf die Grundlagenforschung als Quelle für seine Ausführungen.