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Totenkasel – klagendes Skelett an einem Messgewand aus Stams (1623)

Eine prächtig bestickte Totenkasel steht als Beispiel für die hohe Qualität der Textilkunst des Barock. Totenkaseln waren das liturgische Gewand des Priesters bei Beerdingungsfeiern, was die Abbildung eines Totenkopfs auf der Vorderseite und eines „Sensenmanns“ auf der Rückseite dieses Messkleides erklärt. Es besteht aus schwerem schwarzem Samt, der mit Seidenfäden bzw. -garnen, feinen Gold- und Silberdrähten bestickt wurde.

Viele Tiroler Kirchen wurden zur Zeit der Gegenreformation barockisiert und mit Wandmalereien, Stukkaturen und plastischem Schmuck ausgestattet. Zur Herstellung einheitlicher, Gesamtkunstwerks-ähnlicher Sakralräume wurde aber auch viel mobiles Kircheninventar benötigt: Kerzenhalter, Reliquiare, Kirchengestühl usw. Zur Abhaltung der oft prachtvoll inszenierten liturgischen Feiern waren Altargeräte (Monstranzen, Kelche) und Messkleider notwendig. Nicht selten wurden diese kunstvoll gearbeiteten liturgischen Geräte und Paramente von privaten Gönnern gestiftet. Damit erfuhr das Handwerk der Gold- und Silberschmiede, der Kunsttischler und der Produzenten prunkvoll gearbeiteter Textilwaren eine Blütezeit.

Als liturgisches Gewand erfuhr die Kasel (lat. „casula“ = „kleines Haus“) mehrere formale Veränderungen, bis sie im Verlauf des Barock eine der Bassgeige ähnliche Form annahm. In den meisten Fällen sind Kaseln von breiten Bordüren eingefasst. Auf der Totenkasel, die in einer Kirche im Tiroler Oberland aufbewahrt wird, wurde die Einfassung mit Symbolen des Todes (Stundenglas, gekreuzte Knochen etc.) bestickt. Hinter dem auf der Vorderseite dargestellten Totenkopf sind ebenfalls gekreuzte Knochen abgebildet. Aus den Augenhöhlen des Schädels züngeln Schlangen, darüber wurden ein weiteres Stundenglas und ein Ziffernblatt appliziert.

Die Rückseite des Messkleids ist noch detailreicher als die Vorderseite ausgestaltet. Im Mittelpunkt der Abbildung steht der „Sensenmann“. Der Kopf des Skeletts ist himmelwärts gewandt, mit seinem rechten Arm stützt es sich auf eine Sense. Mit seiner linken Hand scheint das markante Gerippe auf die todbringenden Symbole des Krieges zu seinen Füßen hinzuweisen: Rüstung, Schwert, Keule und Spieß. An der umlaufenden Bordüre ist das Wappen des Stifters der Kasel, Marquardus de Freiberg, dargestellt.

Die Ikonografie der Stickerei mit ihren Waffenmotiven dürfte wohl ein Hinweis darauf sein, dass die Kasel zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) hergestellt wurde. Die Erforschung vergleichbarer Stücke in niederösterreichischen Klöstern ergab, dass solche Totenkaseln häufig aus Augsburg stammen.

Bleibt noch ein Punkt zu erötern, der in Zusammenhang mit diesem liturgischen Gewand wie ein großer Anachronismus erscheint: der merkwürdige „Klage-Gestus“ des Skeletts. Für die Darstellung des Gerippes könnte ein Holzschnitt aus dem Bereich der profanen Kunst eine Vorlage geliefert haben. Dabei handelte es sich wahrscheinlich um eine Abbildung aus dem anatomischen Atlas „De humani corporis fabrica libri septem“ (1543) des in Padua lehrenden Anatoms Andreas Vesal (oder Vesalius).

Der gebürtige Belgier Vesal (1514-1564) war der Leibarzt Kaiser Karls V. und gilt als Begründer der wissenschaftlichen Anatomie im modernen Sinn. Er verfolgte das Anliegen, „das unaussprechliche Wunderwerk Gottes zu erfassen“ und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wobei der von ihm herausgegebene und Kaiser Karl V. gewidmete anatomische Atlas bis heute als epochales Werk angesehen wird. Berühmt sind auch die Illustrationen des Buches, die – so die Behauptung – von niemand geringerem als Tizian geschaffen wurden. Gesichert ist in diesem Zusammenhang aber nur, dass die zur Veranschaulichung der wissenschaftlichen Erkenntnisse dienenden Illustrationen von Jan Stephen von Calcar (1499-1545), einem Schüler Tizians, gestaltet wurden. Schon das Titelblatt der Erstausgabe war mit einem Holzschnitt geschmückt, auf dem im Hintergrund einer Vorlesung Vesals ein „klagendes Skelett“ abgebildet wurde. Dieser für das Zeitalter des beginnenden Barock typische Verweis auf die Vergänglichkeit allen Lebens wurde von dem Künstler, der für die Gestaltung des Entwurfs der Tiroler Totenkasel zuständig war, als Bildmotiv übernommen.