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Neidhartspiel – Spuren des ältesten Theaterstücks in deutscher Sprache auf Fresken in Mühlbachl (um 1400)

Profane Wandmalereien aus dem Mittelalter genießen eine hohe Wertschätzung. Dazu gehören insbesondere die, die sich auf – ebenfalls seltene – Vorlagen aus der weltlichen Literatur beziehen.

Eine solche Rarität brachte 1945 ein Bombenangriff zutage: Nachdem die mittelalterliche Burg Trautson bei Matrei am Brenner zerstört worden war, entdeckte man in den Ruinen bis dahin unbekannte Fresken. Die sensationellen Funde umfassen u.a. Szenen aus einem Fastnachtsspiel (= Fasching, Karneval), dessen literarische Wurzeln mit den Dichtungen des Minnesängers Neidhart von Reuenthal in Zusammenhang stehen. Neidhart lebte in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und war einer der bedeutendsten Liederdichter des Mittelalters. Er ging als radikaler Erneuerer in die Literaturgeschichte ein, weil seine Werke die Tradition des Hohen Minnesangs durchbrachen und parodierten. Aufgrund der großen Bekanntheit und weiten Verbreitung seiner Lieder entstand nach seinem Tod ein regelrechter „Neidhart-Stil“. Später entwickelte sich Neidhart zur Titelgestalt in den „Neidhartspielen“. Dabei handelt es sich um eine Art Fastnachtsspiel und – in seiner schriftlichen Form – wahrscheinlich um das älteste erhaltene Drama in deutscher Sprache.

Zu den 1945 infolge des Bombardements zutage geförderten Fresken gehören neben dem Neidhartzyklus auch eine Jagdszene und Wappenmotive aus dem 16. Jahrhundert. Die Seccomalereien wurden abgenommen und in den Werkstätten des Bundesdenkmalamtes restauriert. Obwohl sie sich in Privatbesitz befinden, können sie im Museum von Maria Waldrast in Mühlbachl bei Matrei am Brenner besichtigt werden. Die geretteten Darstellungen des Minnesängers Neidhart zählen zu den besonders raren Zeugnissen profaner Kunst und Kultur der Spätgotik im Alpenraum und dürften in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden sein (übrigens: ein Pendant zu diesen einzigartigen Fresken befindet sich im Haus Tuchlauben 19 in Wien). Der Künstler der Wandmalereien ist unbekannt. Wäre auf ihnen nicht ein Fass auf Rädern festgehalten worden, das die Inschrift „Neidhart“ trägt und in dem ein gut gekleideter Mann sitzt, wüsste man womöglich bis heute kaum etwas über den Inhalt der ca. drei Meter breiten Abbildung.

Neidhart von Reuenthal war ein Minnesänger, von dem heute noch ca. 140 Liedtexte unterschiedlicher Genres erhalten sind. Manche von ihnen spielen im Bauernmilieu: Der Ritter verliebt sich in ein Bauernmädchen und tritt so in Konkurrenz zum Bauernburschen. Diese von Neidhart verfolgte Art der literarischen Auseinandersetzung mit dem Bauernstand wandelte sich im 13. und 14. Jahrhundert. Das hatte zur Folge, dass Neidhart bzw. die aus ihm entstandene literarische Figur in den Neidhartspielen mehr und mehr als Feind der Bauern eingestuft wurde.

Die Verbindung von Neidhart zu Tirol geht auf die „Neidhartspiele“ zurück, die während der Fastnachtszeit nachweislich z.B. in Sterzing aufgeführt wurden. Etwa zeitgleich mit der Entstehung des Neidhartzyklus auf der Burg Trautson bei Matrei am Brenner könnte das possenhaft-derbe Stück auch das erste Mal schriftlich festgehalten worden sein. Der auf den Wandmalereien wiedergegebene „Veilchenschwank“ bezieht sich auf den ersten Teil der Sterzinger Neidhartspiele. In seiner Urform geht dieser „Veilchenschwank“ auf einen Brauch am Wiener Hof zur Zeit des Babenbergers Leopold VI. des Glorreichen (von 1198 bis 1230 Herzog von Österreich) zurück. Im März zog der ganze Hofstaat in die Donau-Auen, um das erste gefundene Veilchen als Zeichen des Frühlingsbeginns zu bewundern. Das sittsamste Mädchen durfte das Veilchen pflücken und es an die Brust stecken.

In der Version des Veilchenschwanks, die in den Neidhartspielen wiedergegeben wurde, verspricht die (übrigens verheiratete) Herzogin Neidhart, ihn zu ihrem Buhlen (= Geliebten) zu erwählen, wenn er ihr das erste Veilchen zeigen könne. Neidhart entdeckt wirklich eines und bedeckt es zum Schutz mit einem Hut. Während er die Herzogin holt, pflückt ein boshafter Bauer das Veilchen und versteckt einen Kuhfladen unter dem Hut. Im Geiste sieht sich Neidhart schon als Geliebter der Herzogin, doch als er – wie auf den Fresken deutlich wiedergegeben – den Hut lüftet, sind die Herzogin und die ganze Hofgesellschaft empört. Neidhart wird von den Bauern verspottet und in einem rollenden Fass durch die Gegend gezogen. Neidhart schwört aber Rache und es kommt zum Kampf zwischen ihm und seinen Anhängern und den Bauern.

Die im 15. und 16. Jahrhundert beliebten Neidhartspiele gehören zur frühesten Form von Fastnachtsspielen. Charakteristisch für sie sind eine Umkehr geltender Normen und eine Entlarvung gesellschaftlicher Miss- bzw. Umstände. Außerdem zeichnen sie sich durch eine derbe, u.a. von fäkalen Ausdrücken durchsetzte Sprache aus, weil sie in Handlungswelten spielen, in denen den menschlichen Trieben freier Lauf gelassen wird.