In weiten Teilen Tirols war die periodische Auswanderung von Arbeitskräften vom 17. bis zum 20. Jahrhundert eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Aufgrund des rauen Klimas und des wenig ertragreichen Bodens waren die männlichen Bewohner und die älteren Kinder mancher Tiroler Täler alljährlich im Sommer gezwungen, im Ausland Arbeit anzunehmen und erst im Winter wieder in die Heimat zurückzukehren. In der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts werden die Tiroler Saisonarbeiter (Bauhandwerker und Wanderhändler aus dem Oberinntal und dem Außerfern, die Imster Vogelhändler, die Zillertaler Handschuhhändler, die Deferegger Teppichhändler usw.) immer wieder erwähnt. Ihre Reisen führten sie durch ganz Europa, nach Russland und manchmal sogar bis nach Amerika.
Die Zeitwanderung der Handwerker im Tiroler Lechtal hatte auch Auswirkungen auf die Baukultur ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das im Sommer verdiente Geld wurde im Winter ausgegeben, um die Häuser zu vergrößern, umzubauen und außen zu verputzen. Die dadurch entstandenen Mauerflächen boten Platz für Fassadenmalereien und Stuckdekorationen. Besonders reich geschmückte Häuser im Stil des Barock, Rokoko und Klassizismus finden sich in Elbigenalp, Holzgau und Steeg (Hägerau). An ihnen wird deutlich, zu welchem Wohlstand manche Händler und Bauhandwerker im Ausland gekommen waren.
Die Hochblüte der Lechtaler Handelsschaft lag um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. 1837 werden über 300 Personen genannt, die 156 Handelsgeschäfte gegründet hatten bzw. fortführten. Ihren Reichtum erlangten sie hauptsächlich durch die im Ausland getätigten Geschäfte, v.a. durch den Handel mit Stoffen, Kurz- und Galanteriewaren (Nähzubehör und modische Accessoires), Federn, Bett- und Wollwaren, Messing und Eisenwaren.
Bei der künstlerischen Ausschmückung ihrer heimatlichen Häuser trat ab dem dritten Viertel des 19. Jahrhunderts an die Stelle von Fassadenmalerei die Stuckatur. Ursprünglich aus dem Maurergewerbe kommende heimische Künstler aus dem Tannheimertal und dem Lechtal spezialisierten sich auf Stuckarbeiten.
So z.B. Anton Bailom (1858-1911) aus Elbigenalp, der sein erstes Geld als Alleinunterhalter in Amerika verdient hatte. Er wurde nach seiner Rückkehr in die Heimat Stuckateur. Im Sommer arbeitete er als Wanderarbeiter in Deutschland, im Winter gestaltete er sein Haus im Ortsteil Untergiblen mit Rokokodekor aus:
Bandel-, Muschel- und Gitterwerk als Fensterumrahmung, in Medaillons Reliefs zweier
Putti mit Theatermaske und Lyra (antikes Saiteninstrument, Leier) als
Allegorien für Schauspiel und Musik, dazu noch die Porträtköpfe der Lechtaler Maler Josef Anton Koch und Anton Falger. Von 1907 bis 1911 hielt Anton Bailom zusammen mit Professoren der Innsbrucker Gewerbeschule jeweils dreimonatige Winterkurse zur Fortbildung der Lechtaler Stuckateure ab.
Eine ganze Familie, die sich dem Stuckateurgewerbe verschrieb, waren die Brüder Knittel aus der Lechtaler Gemeinde Bach: Karl (1869-1945), Johann (Hannes) (1865-1949), Anton (1879-1959), Alois (1879-1959) sowie Berthold Knittel (1884-1936). Johann, der hauptsächlich Bildhauer und Tischler war, schnitzte zusätzlich Holzmodel (= Hohlform zur Vervielfältigung von Stuckelementen) für seine Brüder. An seinem Haus in Untergiblen/Elbigenalp gestaltete er die Stuckfassade. Anton machte, ausgehend vom Tischlergewerbe, das Stuckateurgewerbe zu seinem Hauptberuf. Sein Haus in Untergiblen zeigt eine charakteristische
neoklassizistische Fassade mit zwei
Putten und dem Firmenschild "Anton Knitel Stuckateur".
In ihrem Heimathaus in Bach setzten die Brüder um 1900 ihren Eltern ein Denkmal, indem sie deren farbig
gefassten Porträtköpfe über dem Eingang anbrachten und auch die Innenräume mit Stuckdecken ausschmückten.
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